Erfahrung aus dem (Einzel-)Handel: Worauf kommt es in Unternehmen an?

Ständig werden uns neue Antworten angeboten: effiziente Prozesse, Lean Management, Digitalisierung, Optimierung von Margen, Big Data-Analysen, Targeted Marketing, Customer Loyalty-Programme, New Work, etc. etc. etc.
Berater zeigen aufwendige Statistiken oder Modelle über die Zukunft:  “…wenn Sie darauf nicht reagieren, dann wird Ihr Unternehmen in wenigen Jahren nicht mehr existieren!” Aber keine Angst, wir müssen nur die entsprechenden Beratungsleistungen einkaufen, um das zu verhindern…

Mehr als sechs Jahre arbeitete ich in verschiedenen Positionen und Projekten in der Zentrale eines großen Handelsunternehmens. Dabei wunderte ich mich immer wieder: Warum wird so viel Aufwand in diese Themen investiert? Was hat das noch mit Handel zu tun?
Besonders sprachlos war ich bei jungen Kollegen, frisch von den Universitäten, die gerade dort anfingen. Sie schienen völlig überzeugt, dass es zum Beispiel eine sinnvolle Aufgabe sei, immer neue Wege zu finden, Kunden zur Zustimmung von Einwilligungserklärungen zu manipulieren – “Das ist doch super, dann können wir gezielt Marketingmaterialien verschicken!” Viele investierten ihre ganze Zeit und Energie ausschließlich in derartige Projekte.

Hauptberuflich arbeite ich inzwischen woanders und hab nichts mehr mit Handel zu tun hat. Doch nebenbei helfe ich als Hobby regelmäßig in einer kleinen Kaffee-Rösterei, besonders beim Verkauf der Produkte im Laden und auf Wochenmärkten. Und da bestätigte sich eine Vermutung, die ich schon länger hatte:
Beim Handel geht es um Beziehungen.

Als allererstes natürlich die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer.
Kennen wir nicht alle eine Situation, in der jemand krampfhaft versuchte, uns etwas zu verkaufen? In Kleidungsgeschäften finde ich das oft so anstrengend, dass ich es möglichst vermeide, einem Verkäufer auch nur über den Weg zu laufen. Die oben genannten Vorgänge in der Unternehmenszentrale zeigen ebenfalls deutlich die Natur der unbewusst vorherrschenden Beziehung.

Die zu Grunde liegende Struktur: der Kunde wird als Mittel zum Zweck gesehen, um ihm etwas zu verkaufen und letztendlich möglichst viel Geld von ihm zu bekommen. Alles wird dem untergeordnet. Freundlichkeit, Qualität oder Kundenzufriedenheit wird ausschließlich mit Absicht der Gewinnoptimierung berücksichtigt.

So sind kurzfristige positive Effekte auf Umsätze möglich, aber was bedeutet das langfristig? Vertrauen geht Stück für Stück verloren, bis der Kunde ohne Zögern zu einem anderen Anbieter wechselt, sobald es dort nur ein geringfügig besseres Angebot gibt. Immer mehr Aufwand und größere Marketing-Budgets sind nötig, um Kunden zu “überzeugen”, in die eigenen Läden zu kommen.

Etwas ganz anderes entsteht, wenn man einen Kunden wirklich verstehen will, man ihm wirklich zuhört, entsprechend ehrlich berät und so gut wie möglich weiterhilft. So kann sich eine Beziehung entwickeln, in der man sich nicht gegenseitig benutzt. Dann kommen die unterschiedlichsten Menschen (mich eingeschlossen) immer wieder gerne vorbei. Das habe ich selbst vielfach erlebt und auch umgesetzt, wenn ich was verkaufte.

Wo ist bei dem Verständnis, dass Beziehungen wichtig sind, jetzt die große Innovation?
Es sind die langfristigen Auswirkungen ehrlicher Begegnungen: Kunden kommen von sich aus, nehmen Preise nicht so wichtig und sprechen offen mit den Verkäufern darüber, was ihnen gefällt, was nicht und was sie sich vielleicht noch wünschen. Die Folge: aufwendiger Customer-Research, Umfragen, Analysen und massenhaft Marketing wird überflüssig. Ironischer Weise sind das heute oft die größten Abteilungen und Budgets in Handelsunternehmen.
Es ist eine einfache Gleichung: Arbeitskraft und Geld ist natürlich begrenzt und je höher der Anteil, den wir davon in Marketing stecken, desto weniger bleibt für tatsächliche Wertschöpfung (also Qualität, nicht “Return-on-Investment”) übrig.
Ich glaube wir können uns gar nicht wirklich vorstellen, wie gravierend sich Dinge verändern würden, wenn wir die Ressourcen dafür einsetzen, Produkte und deren Qualität zu verbessern…

Außer zu Kunden gibt es natürlich noch weitere wichtige Beziehungen in Unternehmen. Wie geht es zum Beispiel deinen Lieferanten?
Auch hier gibt es einen Unterschied zwischen dem besten kurzfristigen Deal, um Margen zu optimieren, verglichen mit dem Aufbau einer stabilen Beziehung miteinander. In schwierigen Zeiten kann das der entscheidende Punkt sein. Könnt ihr ehrlich miteinander über Probleme sprechen und zusammenarbeiten, um gemeinsam kreative Lösungen zu finden? Oder versucht jeder nur verzweifelt seine eigenen Schäfchen ins trockene zu bringen?

Die letzte Art von Beziehungen sind die innerhalb eines Unternehmens. Auf den ersten Blick mag das überaus komplex erscheinen, doch letzten Endes läuft es auf dasselbe, erstaunlich einfache Prinzip hinaus: Was ist uns wichtig, was unsere Intention? Versucht jede Abteilung und jeder persönlich, die eigenen “KPI’s” zu erfüllen – wenn’s drauf ankommt auch auf Kosten anderer?

Diese authentischen Beziehungen entstehen über die Zeit durch direkte persönliche Interaktion. Wir können das nicht regeln oder erzwingen, wie es oft mit von oben herab verordneten Schulungs-“Angeboten” versucht wird. Stattdessen könnte man sich mal ehrlich eine Frage beantworten: Begegnen wir uns wirklich – auf allen Ebenen, vom Management bis zur Putzfrau – oder bleiben wir in Gewinnoptimierungs-Zweckgemeinschaften und machen weiter unsere Rollenspiele?

Meine Intention mit diesem Artikel ist nicht, irgendjemanden zu überreden, sofort alles über den Haufen zu schmeißen. Ich habe noch kein einziges Beispiel gesehen, bei dem durch Veränderungen mit Gewalt wirklich etwas verbessert wurde – selbst wenn ursprünglich vielleicht eine ehrliche positive Absicht damit verbunden war. Denn was ist dabei wirklich die Beziehung, wenn du versuchst, jemanden zu überreden, dass eine Veränderung jetzt wirklich der nötige Schritt ist?

Stattdessen lade ich dazu ein, uns von Zeit zu Zeit einfach mal die Qualität unserer Beziehungen anzusehen. Ein Beispiel wäre, bei anstehenden Projekten zusätzlich zu allen anderen Faktoren auch mal anzusprechen: Welche Auswirkungen wird das eigentlich auf die unterschiedlichen Beziehungen haben?

Durch eigene praktische Erfahrungen habe ich wieder einmal gelernt: das worauf es ankommt, ist nicht annähernd so kompliziert, wie es oft dargestellt wird. Jeder Tag, an dem ich Kunden, Kollegen und Geschäftspartnern ohne Hintergedanken, ohne sie als Mittel zum Zweck zu benutzen begegne, ist so viel angenehmer und bereichernder, dass ich es gar nicht mehr anders will.
Und nur um Missverständnissen vorzubeugen, das heißt natürlich nicht, dass immer alles nur völlig harmonisch ist oder sein soll…


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