Digitalisierung schadet Unternehmen

An jeder Ecke steht ein Dienstleister, der verspricht, verschiedene Abläufe zu digitalisieren und zu optimieren. Die Argumente: Wettbewerbsfähigkeit (die andern machen’s, also musst du das auch machen), Effizienz, Automatisierung und natürlich mehr Marge und Gewinn durch Analyse aller möglicher Daten.

Die Auswirkung digitaler Werkzeuge in technischen Bereichen kann ich nicht beurteilen. Ich vermute aber, dass damit an manchen Stellen eine höhere Qualität und Präzision möglich wird. Ich schreibe hier über die Systeme und Software-Angebote in der Verwaltung und Abwicklung. Dabei bestätigt sich1) immer wieder folgendes Bild:

Initiale Kosten und zeitlicher Aufwand sind deutlich höher als geplant.
Kaufpreis oder Lizenzgebühren sind nur die halbe Miete. Das neue System muss erstmal eingerichtet und konfiguriert werden. Dazu sind eine ganze Zeit lang einige Berater nötig, zu branchenüblichen Tagessätzen. Dabei stellt sich heraus, an verschiedenen Stellen gibt es Besonderheiten, die der Standard nicht abdeckt. Workarounds müssen entwickelt werden, um die grundlegenden Funktionalitäten überhaupt nutzen zu können. Sobald technisch alles funktioniert, werden die Sachbearbeiter damit konfrontiert, was weitere Aufwände in Form von Zeit und Kosten für Schulungen bedeutet.
Ok, da ist vielleicht manches ungünstig gelaufen, aber jetzt ist endlich alles fertig…

Wartung und Fehlerbehebung verursachen dauerhaft hohe Aufwände.
Sobald mit dem neuen System gearbeitet wird, gibt es Fragen und Probleme. Dann wird entweder weitere externe Beratung benötigt oder es gibt eine eigene IT-Abteilung. Dort wird oft die meiste Zeit mit dem Suchen und Beheben von Fehlern verbracht. Bei größeren Komplikationen und Ausfällen kann an vielen Stellen gar nichts mehr gemacht werden.
Nach einiger Zeit kommt ein Update oder eine neue Version – einfach einspielen und es kann weiter gehen und alles ist noch viel besser! Nur… die bisher gemachten Anpassungen und Workarounds führen zu Problemen. Weiterer Aufwand ist nötig, bis man die Funktionalität vor dem Update wieder hergestellt hat. Manchmal gibt es mit einem Update grundlegende Änderungen in der Oberfläche und Nutzerführung. Trotz weiterer Schulungsaufwände ärgern sich Sachbearbeiter und andere Nutzer, dass sie die eigentliche Arbeit, die sie gerade machen wollten, jetzt nicht machen können. Es gibt viele Rückfragen und kommt zu unbeabsichtigten Fehlern, was ebenfalls Zeit und Geld kostet. Das wiederholt sich immer wieder. Insgesamt sind wir deutlich mehr damit beschäftigt, das System zu pflegen und halbwegs am Laufen zu halten, als mit der Arbeit, die es eigentlich mal unterstützen sollte.

Ein neues System bringt von sich aus keinen Nutzen. 
Ganz naiv, ohne weitere Interpretation, kann ein System folgendes leisten: Daten erfassen und abgespeicherte Daten aus einer Datenbank abrufen, anzeigen, ändern und wieder speichern. Der Mehrwert bei Verwaltung sehr großer Datenmengen ist offensichtlich.
Die anderen versprochenen Vorteile sind Geschichten, die erzählt werden. Sie kommen nie direkt durch das System. Menschen sehen sich Daten an, interpretieren diese, ziehen Schlussfolgerungen und kalkulieren das eventuell bei einer Entscheidung mit ein. Dazu gibt es Auswertungen, Berichte und “Dashboards” aller Art. “KPI’s” und automatisierte Analysen sind ihrer Natur nach abstrakt und allgemein. Sie beschreiben nicht, was man wirklich konkret operativ verändern kann. Sobald jemand mit den Zahlen arbeitet, gibt es Detailfragen und weitere Auswertungen werden gewünscht. Man braucht zusätzlich jemanden, der manuell tiefergehende Analysen macht.
Mit der Zeit werden mehr Funktionen hinzugefügt. Formulare werden komplexer und es gibt haufenweise Möglichkeiten, Filter zu setzten, Zeitreihen zu bilden, etc. etc. Durch mehr Logik und Komplexität wird das ganze System instabiler. Es wird unübersichtlich, der Nutzer ist überfordert, macht Fehler oder interpretiert etwas in Daten hinein, was diese gar nicht hergeben. Ohne detaillierte Kenntnis der Datenerfassung mit ihren Ungenauigkeiten und Fehlern, der Daten und wie sie verarbeitet werden, kann Korrelation von Kausalität nicht unterschieden werden. Dafür ist jemand nötig, der sich ständig damit beschäftigt.

Innovation geht flöten.
Das digitale Produkt basiert auf Annahmen und Vorgaben, wie Prozesse aussehen sollen. Damit gibt es sehr enge Grenzen vor. Der Dienstleister spricht von Innovation und bietet im Kern allen dasselbe an.
Ein paar Sachbearbeiter haben eine wirklich gute Idee: sie wollen Verantwortung übernehmen, und ihren Arbeitsprozess, die konkrete Wertschöpfung, grundlegend neu gestalten und verbessern. Das geht nicht. Die Möglichkeiten der Personalisierung und Konfiguration sind begrenzt. Nochmal ein anderes System? Viel zu aufwendig! Es bleibt, den Anbieter zu informieren und zu hoffen, dass in irgendeinem zukünftigen Update etwas davon umgesetzt wird. Die Motivation der Mitarbeiter fällt in den Keller.

Wissen und Verantwortung gehen verloren.
“Ich geb’ das da einfach so ein.”
“Hauptsache keine Fehlermeldung.”
“Keine Ahnung, warum das so ist, macht eigentlich keinen Sinn, aber das Programm ist halt so.”
“Ich weiß nicht, was da weiter mit den Daten weiter passiert.”
“Wird schon passen.”
“Eigentlich hab ich’s richtig eingegeben.”
“Seit dem letzten Update geht das nicht mehr.”
“Früher hätte ich da was für Sie deichseln können… jetzt ist das nicht mehr möglich, das kann ich hier nicht eingeben.”

Aber:
Schadensbegrenzung und echter Mehrwert zu geringen Kosten ist möglich!
Der Gedanke “wir brauchen nur dieses neue IT-System, wir müssen das digitalisieren, dann wird alles besser” ist so verführerisch, dass ich auch schon drauf reinfiel. Ein Beispiel: Revolutioniert die neue Software wirklich das Projektmanagement? Oder ist es nicht erstmal nur eine strukturierte Verwaltung von Listen mit einer Chat-Funktion? So betrachtet wird auf einmal ersichtlich, warum jemand, der intrinsisch motiviert Verantwortung übernimmt und zum Beispiel ‘nur’ mit einer einfachen Excel-Liste ausgestattet ist, jedes IT-System in dem Bereich schlagen kann.

Statt um neue Anbieter und deren Software, kümmere ich mich inzwischen erstmal um andere Dinge: Was sind die praktischen wertschöpfenden Arbeitsschritte? Wie kann ich gaaaanz einfach, möglichst ohne zusätzliche Software ausprobieren, was anders zu machen? Dabei stellt sich oft eine unerwartet starke Verbesserung ein. Oft merke ich, die vermeintlichen Probleme sind tatsächlich erstmal erledigt, ohne die oben beschriebenen Kosten, Risiken und Nebenwirkungen.

Scheint es dann immer noch sinnvoll, etwas stärker zu digitalisieren, stelle ich mir weitere Fragen: Bei welchen Schritten ist der Einsatz von Software wirklich hilfreich? Wenn ich schonungslos ehrlich bin, steht die Summe aller oben beschriebenen negativen Auswirkungen wirklich in einem gesunden Verhältnis zum Mehrwert? Und wie kann die IT-Unterstützung einzelner Abläufe so modular, so unabhängig wie nur irgendwie möglich, gestaltet werden?

Dazu lade ich ein: Verbesserung durch Wertschätzung der analogen Prozesse der Wertschöpfung – statt auf irgendeine heilsbringende IT-Lösung zu setzten. Die kommt nicht.
Auch nicht mit KI.

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1) Grundlage meiner Einschätzung sind zehn Jahre berufliche Erfahrung mit Softwaresystemen unterschiedlicher Größenordnung. Nach meinem Studium der Angewandten Mathematik mit Fokus auf Statistik & Optimierung arbeitete ich im Projektmanagement intern und mit Dienstleistern und habe dabei auch direkt bei Konfigurationen und Software-Entwicklungen mitgeholfen. Eine Ausnahme zu den beschriebenen Problemen habe ich noch nie gesehen.


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