Wir lernen gerade erst, wie wir Sprachen lernen können
Lange Zeit hätte wohl niemand gedacht, dass ich mich mal mit Sprachen und Sprachen lernen beschäftige. Ab der fünften Klasse hatte ich Englisch und zwei Jahre später kam noch Französisch dazu. Die Noten waren bis zum Abitur immer im Bereich von 4 bis 5.
„Tja, da hat wohl einfach jemand keinen Bock oder kein Talent dazu!“ Dass so was gedacht wurde, war zumindest der Eindruck, den ich durch die Reaktionen der Lehrer auf mich in den täglichen Begegnungen bekam. Ein wirkliches Gespräch fand nie statt.
Tatsächlich war meine Einstellung eine ganz andere. Ich habe mich schon immer gefreut, etwas Neues kennen zu lernen. Die Schulbücher waren mit Texten aufgebaut, die inhaltlich aufeinander aufbauten und fortlaufende Geschichten erzählten. Das hätte mich damals interessiert, eigentlich wollte ich wissen, wie diese Geschichten weitergehen.
Aber dann blieb man stundenlang bei einem kurzen Text, um irgendwelche Grammatik-Regeln oder Vokabeln stupide zu wiederholen. Das hatte bei mir keinerlei Effekt. Obwohl ich die Hausaufgaben machte, konnte ich diese Sachen bei den Klausuren trotzdem nicht richtig genug wiedergeben. Jegliche Motivation und Freude am Lernen wurde durch diese technische Herangehensweise innerhalb weniger Unterrichtsstunden völlig zu Nichte gemacht.
Den Lehrern mache ich das nicht zum Vorwurf. Sie handeln einfach nach dem vorherrschenden Theoriegebäude über das Lernen von Sprachen. Das ist in seiner grundlegenden Struktur gar nicht so kompliziert:
Man hat Sprachen in zwei Bausteine runtergebrochen, die Wörter/Vokabeln und wie man diese miteinander kombiniert, also die Grammatik-Regeln. Die naheliegende Schlussfolgerung: wenn man diese beiden Dinge auswendig lernt und sie durch Wiederholung einübt – so dass man es irgendwann unbewusst macht und nicht mehr lang darüber nachdenken muss – dann kann man nach einigen Jahren eine Sprache flüssig.
Noch heute ist fast jeder Unterricht und selbst moderne Online-Kurse nach dieser Vorstellung aufgebaut.
Auf den ersten Blick klingt das ja auch alles logisch. Aber hat man in der Praxis, während man gerade einen Satz spricht, wirklich die Zeit zu überlegen, was gerade die richtige Grammatik-Regel ist und wie man sie genau anwendet? Und was mich schon lange wundert: Wenn das so funktioniert, warum kann ich meine Muttersprachen (Deutsch und Bayrisch 🙂 ), ohne dass ich auch nur eine einzige Grammatik-Regel im Detail erklären könnte?
Tja, der Deutsch-Unterricht war auch nicht so das gelbe vom Ei, aber das ist ein anderes Thema…
Als Kleinkinder lernen wir nicht, indem uns die Eltern die Regeln der Sprache erklären, sondern durch neugieriges Zuhören und später Nachahmen. Und was ist für eine beeindruckende Leistung! Dass wir ganz aus dem Nichts eine komplette Sprache lernen konnten. Und zeitgleich noch viel anderes, wie das Laufen auf zwei Beinen. Alles innerhalb kürzester Zeit, verglichen mit dem Aufwand, den wir mit den vorherrschenden Methoden für eine weitere Sprache brauchen.
Man mag jetzt vermuten, dass läge einfach daran, dass das Gehirn und die Fähigkeit zu Lernen im Lauf des Lebens immer schlechter wird. Doch dem ist nicht so. Die Gehirnforschung hat gezeigt, dass das eine überholte Vorstellung ist. Für Details dazu empfehle ich die Arbeit, insbesondere die allgemein verständlichen Sachbücher, des Neurobiologen Gerald Hüther. Unter den richtigen Bedingungen können wir das ganze Leben lang ohne Probleme Neues lernen.
Englisch kann ich heute fließend. Ich kenn zwar nicht jedes Wort, aber wenn ich etwas lese, höre oder selbst in der Sprache spreche, dann übersetzte ich dabei nichts. Ich verstehe es einfach in der Sprache selbst.
Ich kann genau festmachen, wann und wie es dazu kam. Während meiner Jugend nahm das Internet gerade Fahrt auf. Dadurch waren viele Dinge verfügbar, die uns damals interessierten, zum Beispiel Computerspiele, Filme und Musik. Aber oft waren diese eben nicht auf Deutsch, sondern nur in englischer Originalfassung zu bekommen, gerade wenn jemand diese, sagen wir mal nicht auf offiziellem Weg irgendwoher hatte. Dadurch beschäftigten wir uns mit der Sprache, bei etwas, was uns wirklich interessierte.
Das war kein bewusstes Lernen. In ganz seltenen Fällen hatte ich mal was nachgeschlagen, was ich unbedingt wissen wollte, aber insgesamt war ich der Sprache einfach lange Zeit immer wieder ausgesetzt. Das war so effektiv, dass ich Englisch schnell fast fließend konnte. Im Abitur war es dann sogar eins meiner besten Fächer. Ein Vielfaches der Jahre Unterricht zuvor hatten das nicht geschafft.
Später bei Reisen ins Ausland konnte ich es ohne große Probleme anwenden und hab so natürlich nochmal einiges dazugelernt. Auch das funktionierte wieder unbewusst. Ich habe mir dabei nie groß Gedanken gemacht, was ich gerade gelernt habe oder welche Fehler ich machte und zukünftig korrigieren müsse.
Das alles führte dazu, dass ich heute keinerlei Probleme oder Unsicherheiten mehr mit Englisch habe – und es hier auch einige Artikel auf Englisch gibt.
Das Interessante ist jetzt, das war keine Ausnahme oder Zufall, dass das bei mir so funktionierte. Das ist eigentlich auch der aktuelle Stand der Forschung in dem Bereich.
Auf Englisch wird das mit ‚Comprehensible Input‘ bezeichnet und scheint die beste Form zum Lernen von Sprachen zu sein. Der Begriff lässt sich nicht direkt ins Deutsche übersetzten. Es bedeutet, sich Inhalten in einer neuen Sprache auszusetzten, die man auch direkt versteht, ohne dass man sie übersetzt oder in der eigenen Sprache erklärt bekommt.
Am Anfang sind das natürlich ganz einfache Wörter und Sätze, kombiniert mit Bildern oder Gesten, um das notwendige Verständnis zu ermöglichen. Das baut man dann weiter aus zu Sätzen, kleineren Geschichten, Unterhaltungen bis hin zum Lesen von Texten und so weiter. Sobald es komplexer wird ist nur wichtig, dass es mit Themen passiert, die einen interessieren, egal ob Weltliteratur, Liebesromane, Nachrichten, Filme oder Kochrezepte. Dabei baut man nach und nach das Vokabular auf und unbewusst übernimmt man dabei auch die Grammatik.
Das erinnert stark an den natürlichen Prozess, wie er beim Lernen der Muttersprache abläuft – und täglich weltweit millionenfach funktioniert. Wie wäre es wohl verlaufen, wenn ich damals im Unterricht einfach den Geschichten hätte folgen dürfen, die mich interessierten?
Obwohl das jetzt stark zusammengefasst war, beschreibt das eine grundlegend andere Struktur zum Lernen von Sprachen, als wir sie heute in der Regel vorfinden.
Dr. Stephen Krashen hat das sein ganzes Leben lang erforscht, er ist inzwischen im Ruhestand und war Professor für Linguistik an der Universität Süd-Kalifornien. Bei seiner Forschung hat sich immer wieder herausgestellt, dass der gerade beschriebene Ansatz deutlich besser funktioniert, als der klassische Ansatz des Auswendig-Lernens von Vokabeln und Grammatik und was da sonst noch so alles dran hängt.
In dem Buch „Explorations in Language Acquisation and Use“ hat er diese Ergebnisse zusammengefasst. Es ist allerdings nicht ganz einfach zu lesen, da es eher eine Sammlung vieler Studienergebnisse ist, ergänzt um Beschreibungen, was diese genau bedeuteten.
Glücklicherweise gibt es ein Video, in dem die wichtigsten Punkte des Lernens mittels ‚Comprehensible Input‘ ausführlich erklärt werden. Außerdem ist darin ein beeindruckendes Beispiel dokumentiert, wie das ganz konkret aussehen und ablaufen kann. Das Video heißt „Wie man eine Sprache erwirbt und nicht lernt!“. Es ist auf Englisch, gibt aber deutsche Untertitel.
Hier der Link dazu: https://www.youtube.com/watch?v=illApgaLgGA
Ich behaupte nicht, dass mit dem alten Ansatz das Lernen von Sprachen nicht möglich wäre. Viele haben das als Grundlage genutzt, um Sprachen zu lernen. Nur ist es wohl eher so, dass letztendlich das Ausschlaggebende für fließendes Sprechen können nicht das Lernen abstrakter Grammatik-Regeln, sondern immer schon der ‚Comprehensible Input‘ in verschiedenen Formen war. Auch wenn das nicht bewusst zum Lernen eingesetzt wurde, so wie bei mir damals bezüglich Englisch.
Was, wenn wir das schon viel früher in den Unterricht integrieren könnten? Wir vielleicht in einem Bruchteil der Zeit mit Freude statt Frust neue Sprachen lernen könnten?
Das zu Grunde liegende Prinzip ist so klar und einfach, dass ich es hier in einem Artikel beschreiben konnte. Mir ist aber bewusst, dass da noch vieles erarbeitet werden muss, wie genau ein Unterricht auf der Basis aussehen und organisiert werden kann. Doch es gibt erste Beispiele (siehe den Lehrer in dem oben genannten Video) und ich vertraue darauf, falls du auch Lehrer bist, dir fällt da sicher was ein! Vielleicht könnte es ja sogar mehr Spaß machen, was auszuprobieren, statt einfach die nächsten Jahrzehnte ständig exakt denselben Unterricht zu machen.
Ich finde es wieder einmal beeindruckend, dass wir von einem natürlichen Prozess lernen können, wie es geht, und dass die Forschung bestätigt, dass das der beste Weg ist. Es ist also auch hier gar nicht-so-kompliziert. Wir haben es uns durch eine ausschließlich analytische Herangehensweise nur viel komplizierter und anstrengender gemacht als nötig.
Ich bin gespannt, wie das Lernen, nicht nur Sprachen betreffend, in einigen Jahrzehnten wohl aussehen wird…
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